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hepi-book: Haltung gibt Halt, Mehr Gelassenheit in der Erziehung

25.10.2022
von Dominik Buchmeier
ArtikelNews
Existenzielle Pädagogik

Wer sich in diesem Buch Rezepte für „richtiges“ Erziehen erwartet, wird möglicherweise irritiert sein. Verglichen mit einem Kochbuch, finden sich zwar einige „Zutaten“, allerdings werden sie nicht nach Anleitung vermengt. Das Gespür für das Wesentliche, der richtige „Riecher“, soll freigelegt werden, um Erziehung mit innerer Zustimmung in Abstimmung mit den Kindern/Jugendlichen zu ermöglichen.
Eva Maria Waibel schafft mit diesem Buch eine übersichtliche Gesamtschau auf die Existenzielle Pädagogik: ihre Ausrichtung, das zugrunde liegende Menschenbild, praktische Zugänge, pädagogische Herausforderungen, Erziehungsmittel, Einbeziehung der Kenntnis von Psychodynamik, etc.

Die Corona-Pandemie, Globalisierung und Digitalisierung werden schon im ersten Kapitel unter dem Überbegriff „heutiger Herausforderungen“ genannt. Schon hier wird deutlich, dass es in der Existenziellen Pädagogik primär nicht darum geht, welche äußeren Bedingungen für die gelingende Erziehung nötig wären, sondern vielmehr darum, eine sinnvolle Antwort auf die Gegebenheiten unserer Zeit zu finden. In diesem „Antwort-Geben“ steckt Freiheit und Verantwortung, die Möglichkeit zur Gestaltung des eigenen Lebens.

Das zugrundeliegende (mehrdimensionale) Menschenbild, das auf Viktor Frankl und in seiner Weiterentwicklung auf Alfried Längle zurückgeht, wird gut nachvollziehbar beschrieben und im Hinblick auf die Relevanz im pädagogischen Feld beleuchtet. Dass der Mensch mehr ist als die Summe seiner Gene und Umwelterfahrungen, wird fundiert erläutert und mit graphischen Darstellungen illustriert. Der Begriff „Person“ ist dabei zentral und wird als das „Tool“ in der Pädagogik vorgestellt. Was es bedeutet, als Pädagog*in mithilfe der eigenen Person die Person des Kindes/Jugendlichen zu erreichen und somit die Schichten der Psyche und des Verhaltens achtsam zu durchdringen, wird gut strukturiert verdeutlicht.

Durch das Einnehmen dieser Perspektive eröffnen sich neue Möglichkeiten im Umgang mit den Kindern und Jugendlichen sowie auch mit sich selbst. Die damit verbundene „Antworthaltung“ bringt die/den Pädagog*in auf Augenhöhe mit dem Kind/Jugendlichen und ermöglicht das „Hinschauen, Hinhören und Hinspüren“, das auf ein Verstehen des Gegenübers ausgerichtet ist. Es braucht in erster Linie keine klugen Erklärungen, Einordnungen in vorgegebene Muster und dergleichen. Man versucht sogar, sich bewusst davon zu lösen und frei zu werden für die vorurteilsfreie Wahrnehmung des Gegenübers und auch seiner selbst. Langsam wird deutlich, was im Untertitel mit „Mehr Gelassenheit in der Erziehung“ gemeint sein könnte.

Eva Maria Waibel widmet ein Kapitel gezielt den Erziehenden. Dadurch, dass der/die Pädagog*in durch seine/ihre Person wirkt, ist es erforderlich, Klarheit zu erlangen über die eigenen personalen Werte. Der Unterschied zwischen allgemeinen und personalen Werten wird als zentraler Punkt behandelt. Die Reflexion der eigenen Emotionalität und auch der Vorstellungen, Glaubenssätze und Muster hilft beim Einnehmen einer Haltung, die innere Balance und Gelassenheit ermöglicht.

Für die Erziehenden und vor allem für die Kinder/Jugendlichen zeichnet die Autorin eine „Landkarte“ der Entwicklung mit zwölf Wegweisern, die Orientierung bieten sollen. Beispiele für solche Wegweiser sind etwa Beziehung, Halt, Beachtung, usw. Dem „Wegweiser“ Beziehung wird sogar ein ganzes Kapitel gewidmet, was einen gewissen Schwerpunkt in der Existenziellen Pädagogik durchleuchten lässt. Die pädagogische Relevanz der „Wegweiser“ wird jeweils erläutert. Dieses Konzept fußt auf dem Strukturmodell der Existenzanalyse nach Alfried Längle, einem evidenzbasierten Modell, das auch in der Psychotherapie als Orientierungshilfe und methodisch zum Einsatz kommt.

Das letzte Drittel des Buches wird dem Anspruch vieler Pädagog*innen gerecht, konkrete Hilfestellung in ihrem Arbeitsfeld zu erhalten. Ausgehend von Menschenbild, menschlichen Entwicklungsfeldern und grundlegenden Überlegungen widmet sich Eva Maria Waibel dem herausfordernden Verhalten von Kindern/Jugendlichen, das sie in der Psychodynamik begründet sieht: ausweichendes Verhalten aufgrund spontaner Reaktionen, mangelnde Kooperation und Aggression seien hier genannt. Besonders interessant ist die fundierte Differenzierung unterschiedlicher Aggressionstypen, die ein besseres Verstehen des jeweiligen Verhaltens ermöglichen sollen. Auch konventionelle Erziehungsmittel wie Lob, Strafe, Belohnung, Tadel, usw. werden kritisch aus Sicht der Existenziellen Pädagogik diskutiert.

Am Ende des Buches schließt die Autorin mit den Ansätzen, mit denen eigentlich vieles in der Existenzanalyse begonnen hat: Hier finden die Leser*innen die für Viktor Frankl so zentralen „Wertstraßen zum Sinn“ und sein „Willenskonzept“. Allerdings werden diese Konzepte umfassend angereichert durch Längles Betonung der Emotionalität und Resonanzfähigkeit des Menschen. Werte werden auch im pädagogischen Feld „gefühlt“, nicht bloß „gedacht“ und „überlegt“.

Insgesamt schafft es Eva Maria Waibel, eine sehr vielseitige, tiefgreifende und philosophisch/anthropologisch fundierte Pädagogik anschaulich und kompakt zu beschreiben sowie mit vielen Bezügen zur pädagogischen Arbeit anzureichern. Mit ihrem Zugang leistet sie einen wichtigen Beitrag dazu, dass der Zugang der Pädagog*innen zu den Kindern und Jugendlichen sowie auch zu sich selbst ein „menschlicher“ wird bzw. bleibt.

Waibel, Eva Maria. Haltung gibt Halt, Mehr Gelassenheit in der Erziehung. Beltz Juventa. Weinheim. 2022.